Energieaufnahmekapazität derzeitiger Stähle mehr als verdoppelt
Dadurch verschieben sich einige wesentliche Randbedingungen im Forschungsschwerpunkt: Nachhaltigkeit, Festigkeit und Verformbarkeit müssen neben Kosten und industrieller Anwendbarkeit berücksichtigt werden. Gleichzeitig müssen Materialwissenschaftler von kritischen Legierungselementen Abstand nehmen – also chemisch ‚schlanke‘ Legierungen entwickeln, die mit preiswerten und nachhaltigeren Elementen auskommen.
Einem Forscherteam, hauptsächlich von der Northeastern University (China) und dem Max-Planck-Institut für Eisenforschung (MPIE, Deutschland), ist es mit einem neuen Bearbeitungsprozess für sogenannte Mittel-Mangan-Stähle gelungen, diese Eigenschaften zu optimieren. Die Stähle erreichen eine Zugfestigkeit von 2,2 GPa bei einer Dehnung von 20 % – eine bisher noch nie dagewesene Kombination für ein Material mit einem so geringen Legierungsanteil, die die Energieaufnahmekapazität derzeitiger Stähle mehr als verdoppelt. Die Forscher veröffentlichten die aktuellen Ergebnisse in der Fachzeitschrift ‚Science‘.
Optimiertes Mikrogefüge
Bei Stählen – wie bei allen Legierungen – besteht in der Regel ein Zielkonflikt zwischen mechanischer Festigkeit und Verformbarkeit, der die Verarbeitbarkeit und Schadenstoleranz einschränkt. Die üblicherweise verwendeten martensitaushärtenden Stähle erreichen eine Festigkeit von 2 GPa. Sie sind jedoch relativ spröde und enthalten teure und wenig nachhaltige Legierungselemente wie Kobalt, Nickel, Molybdän oder Titan.
Im Vergleich zu martensitaushärtenden Stählen erreichen sogenannte DP-Stähle (verformte und partitionierte Stähle) eine ähnliche Festigkeit, können aber um mehr als 15 % gedehnt werden. Ihre Verarbeitung ist jedoch kompliziert und kostspielig und ihre Verformung ist inhomogen. Allen diesen ultrahochfesten Stählen ist gemeinsam, dass sie ein dominantes Martensitgefüge aufweisen, das keinen topologischen Gestaltungs- oder Formkriterien folgt. Dieses Gefüge trägt zwar zur Festigkeit der Legierung bei, verringert aber deren Duktilität und führt somit zur Versprödung.
„Ultrahochfeste Stähle werden zum Beispiel bei sicherheitsrelevanten Bauteilen in Kraftwerken, Flugzeugen, Industrieanlagen oder auch in der Autokarosserie verwendet. Dort müssen die Stähle fest sein, aber gleichzeitig auch eine hohe Energie im Falle einer Verformung aufnehmen können. Je mehr Energie aufgenommen wird, desto mehr wird der Aufprall abgeschwächt und die Insassen bleiben geschützt“, erklärt Professor Dierk Raabe, Direktor am MPIE und korrespondierender Autor der Veröffentlichung. “Unser Ansatz besteht nun aus einem Gefügedesignkonzept, das mehrmaliges Schmieden, eine Behandlung unter kryogenen Bedingungen und Vergütung umfasst. Dadurch werden zahlreiche Mikromechanismen aktiviert, die das Material stärken und duktiler machen.”
Das Schmieden führt zu einer höheren Versetzungsdichte und zu stärker verteilten Nanoausscheidungen, was in einer höheren Streckgrenze resultiert. Die hohe Duktilität ist eine Folge der Versetzungen im Martensit und der allmählichen, durch Verformung angeregten Phasenumwandlung.
Die neue Verarbeitungsmethode wandelt den größten Teil des Austenits in Martensit um und stabilisiert den verbleibenden Austenit. Der gebildete Martensit weist ein lamellenartiges Gefüge auf, das an einen typischen Damaszenerstahl erinnert, der durch Faltung und Kombination verschiedener Eisenlegierungen an Festigkeit gewinnt. “Hier beschränken wir uns auf eine Legierung, aber nutzen eine ähnliche hierarchische Gefügeordnung“, sagt Raabe.
Die entwickelte Designstrategie ist mit den bestehenden Industrieprozessen kompatibel und lässt sich daher einfach und effizient hochskalieren. Die Forscher wollen nun den Konstruktionsweg für andere martensitische Legierungsklassen anpassen.
Mehr Informationen:
Y. Li, G. Yuan, L. Li, J. Kang, F. Yan, P. Du, D. Raabe, G. Wang; Ductile 2-GPa steels with hierarchical substructure; In: Science, Volume 379, Issue 6628; science.org/doi/10.1126/science.add7857