Mit virtuellem Prototyping für eine sicherere Industrie für Frauen

Wieso ein weiblicher Crashtest-Dummy nur eine gewisse positive Symbolik für Frauen trägt, aber nicht zu wirklicher Gerechtigkeit führt.

Die ESI Group ist Spezialist für Simulations- und virtuelle Prototyping-Software für verschiedene Branchen. ESI hat den Weltfrauentag zum Anlass genommen, auf seine Initiativen zur Gleichstellung der Geschlechter aufmerksam zu machen.

Die Gruppe setzt sich für eine schnelle Gesetzesänderung ein, um die Verwendung von virtuellem Prototyping in Zertifizierungstests in der Automobilindustrie zu ermöglichen, mit dem Ziel, die Sicherheit aller Benutzer unabhängig von Geschlecht oder Körperform zu gewährleisten.

ESI stützt seine Argumentation auf eine Einschätzung des World Economic Forum (WEF) und eine Studie des Insurance Institute of Highway Safety (IIHS).

These: Crashtests ignorieren den weiblichen Körperbau
Laut World Economic Forum werden weibliche Fahrer bei einem Autounfall 47 % häufiger als männliche Fahrer schwer verletzt. Die Organisation beruft sich dabei auf eine Studie von Forschern des Bereichs Biomechanik und Unfallverhütung. Demnach sind Standard-Sicherheitssysteme (Sicherheitsgurte, Airbags und andere passive Sicherheitsvorrichtungen) auf männliche Fahrer ausgerichtet und beim Schutz weiblicher Insassen nicht in gleichem Maße effektiv. Insbesondere haben weibliche Insassen aufgrund von Unterschieden bei Kraft und Muskulatur des Halses und der relativen Positionierung der Kopfstütze ein höheres Risiko für ein Schleudertrauma. Ebenfalls besteht ein höheres Risiko für Verletzungen der unteren Extremitäten aufgrund der kürzeren Statur und der bevorzugten Sitzhaltung. Die Autoren fordern daher Designänderungen an den Crashtest-Dummy-Modellen, um die Unterschiede in den biomechanischen Eigenschaften beider Geschlechter zu berücksichtigen. 

Allerdings wurde die Studie, auf die sich das WEF stützt, bereits 2011 im American Journal of Public Health (AJPH) veröffentlicht. Es handelt sich um eine Kohortenstudie, die sich auf US-amerikanische Unfalldaten zwischen 1998 und 2008 stützt. In einem Zeitraum von 15–20 Jahren geschehen bei Autobauern jedoch signifikante Weiterentwicklungen. In Deutschland ist die Automobilindustrie neben dem Maschinenbau eine Leitindustrie – und durch eine technologische Spitzenstellung gekennzeichnet. Das WEF, eine Lobby-Organisation der umsatzstärksten globalen Unternehmen, präsentiert die Erkenntnisse der Studie jedoch als Information mit Neuigkeitswert – wohl, um auf seine Agenda aufmerksam zu machen, mit der es gesellschaftliches Verantwortungsbewusstsein präsentieren will.

Entscheidend ist die Fahrzeugwahl
Eine deutlich aktuellere Studie hat das Insurance Institute of Highway Safety (IIHS) veröffentlicht. Es stellte im Jahr 2021 fest, dass Frauen bei einem Verkehrsunfall eine um 20 bis 28 % höhere Sterblichkeitsrate haben als Männer. Die Schlussfolgerungen sind jedoch andere: “Unsere Studie zeigt, dass die heutigen Crashtestprogramme Frauen genauso geholfen haben wie Männern”, sagte Jessica Jermakian, IIHS-Vizepräsidentin für Fahrzeugforschung und eine der Autoren der Studie. Das erhöhte Risiko von Frauen hänge mit der Wahl des Fahrzeugs zusammen und den Umständen ihrer Unfälle, anstatt mit körperlichen Unterschieden.

“Die Zahlen deuten darauf hin, dass Frauen häufiger kleinere, leichtere Autos fahren und dass sie bei Seitenaufprall- und Frontalaufprall-Unfällen häufiger als Männer das beschädigte Fahrzeug gelenkt haben”, sagt Jermakian. “Wenn man das berücksichtigt, verringert sich der statistische Unterschied in der Verletzungswahrscheinlichkeit drastisch.” 

Eine im Jahr 2022 von der National Highway Traffic Safety Administration veröffentlichte Studie ergab zudem, dass die Unterschiede bei Unfallverletzungen zwischen Männern und Frauen bei neueren Fahrzeugen viel geringer sind als bei älteren. “Wir bewegen uns also bereits in die richtige Richtung und müssen diese Entwicklung weitertreiben, ohne dabei zu entgleisen.” so Jermakian. Ein weiblicher Dummy auf dem Fahrersitz würde eine gewisse positive Symbolik für Frauen tragen, aber wirkliche Gerechtigkeit kann damit nicht erreicht werden. 

Schnellere und kostengünstigere Ergebnisse durch virtuelle Crashtests
Dummies sind zum Glück nicht die einzigen Werkzeuge, die zur Verfügung stehen. Ein vielversprechendes Instrument sind virtuelle Crashtests mit Computermodellierung als Ergänzung zu physischen Tests. Virtuelle Tests können mit einer unbegrenzten Anzahl von Modellen durchgeführt werden, die die Vielfalt der menschlichen Bevölkerung repräsentieren.

Die ESI-Gruppe ist der Überzeugung, dass eine regulatorische Entwicklung notwendig ist, um die Einführung agiler und integrativer Methoden zu fördern, anstatt sich ausschließlich auf physische Tests und Prototypen als Referenzwerkzeuge für passive Sicherheitszertifizierungen zu verlassen. Das virtuelle Prototyping ermöglicht flexible Parameteränderungen und erleichtert das Testen aller Morphotypen, was noch umfassendere Ergebnisse ermöglicht. Darüber hinaus kann die Simulation die morphologische Vielfalt schneller und kostengünstiger einbeziehen.

Die Rolle der Digitalisierung bei der Gewährleistung der Sicherheit im Straßenverkehr kann nicht hoch genug bewertet werden. Durch die Einbeziehung der verschiedenen Körperstaturen in Simulationen kann das virtuelle Prototyping die gesamte Bevölkerung besser schützen. Obwohl die Automobilindustrie das virtuelle Prototyping weitgehend eingeführt hat, ist der Einsatz virtueller menschlicher Modelle, die eine breite Palette von Körperformen berücksichtigen, nach wie vor optional. Daher müssen die Gesetzgeber die systematische Einführung solcher Techniken aktiv fördern, um eine optimale Sicherheit für alle Benutzer zu gewährleisten, unabhängig von Geschlecht oder Körperform.
Florenz Barré, Women@ESI Generaldelegierte

 

Über das IIHS
Das IIHS, eine amerikanische Non-Profit-Organisation, besteht seit dem Jahr 1959 und wird von Autoversicherern finanziert. Ziel der gemeinnützige Organisation ist die Verringerung von Todesfällen, Verletzungen und Sachschäden bei Kfz-Unfällen durch Forschung und Aufklärung.

Über die ESI-Gruppe
Die 1973 gegründete ESI Group bietet individuelle Lösungen, die auf prädiktiver physikalischer Modellierung und virtuellem Prototyping beruhen und dadurch die Industrie bei der Entscheidungsfindung unterstützen. ESI ist hauptsächlich in den Bereichen Automobil- und Landtransport, Luft- und Raumfahrt, Verteidigung und Marine, Energie und Schwerindustrie tätig. Das Unternehmen ist in mehr als 20 Ländern vertreten, beschäftigt weltweit 1100 Mitarbeiter und erzielte im Jahr 2021 einen Umsatz von 136,6 Millionen Euro. ESI hat seinen Hauptsitz in Frankreich.

Mehr Informationen:

esi-group.com
iihs.org/vehicle-choice-help-explain-injury-risks-for-women
iihs.org/improving-safety-for-women-requires-more-than-a-female-crash-test-dummy

Dipan Bose et al. (2011): Vulnerability of Female Drivers Involved in Motor Vehicle Crashes: An Analysis of US Population at Risk in American Journal of Public Health 101, 2368_2373, doi.org/10.2105/AJPH.2011.300275
ajph.aphapublications.org/doi/full/10.2105/AJPH.2011.300275